Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wie viel er in sieben Jahren dazugelernt hatte. (Marc Twain)
Man sagt: Die Familie kann man sich nicht aussuchen. Das stimmt. Man muss Wege finden, miteinander auszukommen. Der einfachste Weg, den leider viele wählen, wenn sie alt genug sind, ist es, davon zu laufen. Um dann, so wie der „Verlorene Sohn“ aus dem Gleichnis von Jesus festzustellen, dass es auch wo anders nicht besser ist.
Weisheit ist zu erkennen, dass nicht unbedingt alle anderen, sondern vielleicht ich selber das Problem bin.
Größe ist, wenn ich mich dann, so wie der verlorene Sohn, demütig wieder auf den Weg zurück mache.
Wir sehen unsere Gemeinde gerne auch als Familie. Mit allen positiven Assoziationen. Zurecht. Geliebt und angenommen sein. Das Leben teilen. Hilfe erfahren usw. All das erlebe ich hier. Gemeinde kann wunderbar sein. Euch als meine Brüder und Schwestern zu sehen ist für mich mehr als eine Floskel, die sich im christlichen Kontext etabliert hat. Ihr seid meine Geschwister.
So wie im Natürlichen ist es auch im Geistlichen so, dass alleine das Zusammengehören noch nicht automatisch dazu führt, dass diese Familie gut funktioniert. In einer Gemeinde reiben wir uns an einander. Manchmal so heftig, dass die Funken fliegen. Diese Erfahrung machen zu müssen ist für uns besonders schmerzhaft, weil wir ja die Erwartung einer heilen Welt in der Familie und in der Gemeinde haben.
Mir ist in der Vorbereitung für diese Predigt ein kleiner Satz aus dem Epheserbrief sehr wichtig geworden. Paulus hat diesen Brief im Gefängnis an eine Gemeinde geschrieben, die gut unterwegs war. Das traf nicht auf alle Gemeinden zu, die er gegründet und begleitet hat.
Wenn man den Brief so in einem Stück durchliest, dann fällt auf, dass Paulus keine konkreten Fragen oder Schwierigkeiten anspricht, sondern sehr viele, ganz praktische, Hinweise gibt, wie das Leben in der Nachfolge Christi gelingen kann.
Man gewinnt den Eindruck, dass die Christen in Ephesus sehr reif und geistlich gesund waren und Paulus sie deshalb einfach nur mit ganz konkreten Ratschlägen ermutigen wollte, auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben.
Der Hauptpunkt des Epheserbriefes ist, dass Jesus das Zentrum und das Ziel der Geschichte ist. Es läuft alles darauf hinaus, dass Jesus am Ende der Zeit Herr über alles ist, über alles in den Himmeln (Plural! Alle geistlichen Mächte) und auf der Erde. Er wird nicht nur herrschen, er wird auch alles unter sich vereinen. Diese Einheit wird nicht auf Grund von äußerlichem Druck herbeigeführt, sondern sie entsteht dadurch, dass alle eine gemeinsame Mitte haben: Nämlich Christus.
Bis das aber soweit ist, hat Gott die Gemeinde quasi als Auslage für diese künftige Welt in dieser gegenwärtigen Welt installiert. Anhand der Gemeinde soll die Welt sehen, wie das Reich Gottes aussieht, wie es sich anfühlt, welche Werte darin gelten, und vor allem welche Zukunft es hat. Die Gemeinde ist die Hoffnung für eine verlorene Welt. Ich wage zu behaupten, dass sie die einzige wirkliche, dauerhafte Hoffnung in dieser Welt ist.
So wie schon Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat: An eurer Liebe zueinander wird jeder erkennen, dass ihr meine Jünger seid (Johannes 13,35), so könnte man analog dazu sagen: An der Einheit, die wir als Gemeinde leben, wird jeder erkennen, wie Gottes Erlösungsplan für diese Welt aussieht.
Wow, das ist eine große und verantwortungsvolle Berufung für uns. Und ja, es ist nicht nur die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, es ist vor allem die Einheit, die unter uns sichtbar wird, die der Welt vor Augen führt, dass bei uns ein anderer Geist weht, als sonst in der Welt.
Die Gemeinde ist sozusagen ein Prototyp für echte Einheit.
Echte Einheit geschieht ja nicht dadurch, dass wir alle gleich aussehen, das gleiche denken, oder alle in einem Verein sind, sondern dadurch, dass wir eine gemeinsame Mitte haben.
Zur Zeit des Neuen Testaments gab es einen riesigen Graben zwischen den Juden und den anderen Völkern. Fromme Juden verweigerten so gut es ging jeden Kontakt zu den „Heiden“, aus Angst, sich zu verunreinigen. Sich mit einem Nichtjuden gemeinsam an einen Tisch zu setzen war für strenggläubige Juden nicht denkbar.
Jesus hat diese „Regel“ der Abgrenzung ja selber schon durchbrochen, als er sich z.B. mit der Frau aus Samarien am Jakobsbrunnen (Johannes 4) unterhalten hat.
Als Petrus vom Heiligen Geist den Auftrag bekam, in das Haus eines römischen Hauptmanns zu gehen, um dort das Evangelium zu verkündigen, musste Gott sehr deutlich zu Petrus, der ja auch Jude war, reden, damit er dann auch tatsächlich zu diesem Hauptmann hinging. (Apostelgeschichte 10)
Im 2. Kapitel des Epheserbriefs beschreibt Paulus recht ausführlich, dass diese Trennung zwischen Juden und Nichtjuden nun vorbei ist. Interessanterweise waren es dann in der europäischen Geschichte die Nichtjuden, die sich stark von den Juden abgegrenzt haben. Die Nazizeit war ein trauriger Höhepunkt. Aber Judenfeindlichkeit und Pogrome gab es auch schon vorher und leider ist Antisemitismus bis heute immer noch ein großes Thema.
Vers 14f: Durch Christus haben wir Frieden. Er hat Juden und Nichtjuden in seiner Gemeinde vereint, die Mauer zwischen ihnen niedergerissen und ihre Feindschaft beendet. Durch sein Sterben hat er das jüdische Gesetz mit seinen zahlreichen Geboten und Forderungen außer Kraft gesetzt. Durch Christus leben wir nicht länger voneinander getrennt, der eine als Jude, der andere als Nichtjude. Als Christen sind wir eins. So hat er zwischen uns Frieden gestiftet.
Gott mutet es uns zu, dass wir Menschen, die so ganz anders sind als wir - die anders denken, anders aussehen, andere Gebräuche haben, sich anders kleiden, eine andere Kultur haben, eben anders sind - als Brüder und Schwestern lieben, achten und ehren.
Eine wahre Revolution. In seiner Gemeinde können Juden und Araber, Iraner und Amerikaner, Russen und Ukrainer, ja sogar Deutsche und Österreicher 😊 gemeinsam Gott anbeten.
Umso schmerzhafter ist es dann für Jesus (und für uns selber), wenn wir wieder anfangen, uns von einander abzugrenzen, schlecht übereinander reden, einander Dinge nachtragen und nicht vergeben, richten, oder sonst irgendwie lieblos miteinander umgehen. Das passt nicht zur Gemeinde Jesu.
Es passiert in der besten Gemeinde, dass Geschwister einander verletzen. Keiner von uns ist vollkommen. Ich glaube, ich brauche das gar nicht im Detail auszuführen, welche Verletzungen wir einander zufügen. Keiner von uns tut das vorsätzlich, das würde ich niemals einem Bruder/einer Schwester unterstellen. Aber Fakt ist, dass diese Verletzungen trotzdem passieren. Sie tun auch deshalb besonders weh, weil man diese Dinge nicht von Bruder X, oder Schwester Y, die ja beide, so wie ich auch, Jesus lieben, erwarten würde.
In diesem Zusammenhang hat mich dieses Wort besonders berührt:
Als ein Gefangener für den Herrn fordere ich euch deshalb auf, ein Leben zu führen, das eurer Berufung würdig ist, denn ihr seid ja von Gott berufen worden.
Seid freundlich und demütig, geduldig im Umgang miteinander. Ertragt einander voller Liebe. (Epheser 4,1-2)
Einander ertragen klingt auf den ersten Blick nicht wie Liebe. Eher wie ein Widerspruch! Aber echte Liebe ist nicht von meinen Gefühlen, oder von der Sympathie zu jemandem, abhängig.
Echte Liebe (Agape) ist die Kraft, nicht nur die eigene, sondern auch die Unvollkommenheit eines anderen zu ertragen.
Und das schreibt Paulus einer Gemeinde, die vorbildlich, lebendig und hingegeben war.
Es war eine Gemeinde, die sogar Jesus in seinen Sendschreiben in der Offenbarung lobt. Und trotzdem müssen sie einander ertragen. Das ist schon stark.
Wenn eine Gemeinde das nicht tut, führt das ganz von selbst zu einer Reihe von Problemen, an deren Ende sehr oft eine Spaltung steht. Die Geschichte der christlichen Kirche ist leider auch eine Geschichte der Spaltungen. Aber diese Spaltungen beginnen in der Regel nicht, dass man in sehr zentralen Fragen des christlichen Glaubens uneins wäre. Meist sind es persönliche Differenzen, die sich aufschaukeln und dazu führen, dass sich einer über den anderen erhebt.
Jesus warnt uns immer wieder davor, nicht über einander zu richten. Und noch viel öfter spricht er davon, dass wir einander vergeben müssen.
In einem Lied, das wir gerne singen, heißt es: „Unmöglich ist keine Option!“ Nicht zu vergeben ist für einen Jünger Jesu noch viel weniger eine Option. Selbst wenn wir immer wieder verletzt werden. Vergebung ist die einzige Option, die uns bleibt. Alles andere führt zu einem verhärteten Herzen, zu Streit, zu Feindschaft und zum Tod jeder Beziehung.
Ein riesiges Alarmzeichen auf dem Weg dorthin sind Partei-Bildungen. Ich spreche nicht von politischen Parteien, sondern davon, dass z.B. von einer Gruppe eine meist nebensächliche (nicht heilsnotwendige) Meinung sehr vehement vertreten wird und allen anderen der richtige Glaube, Hingabe, Erkenntnis, oder was auch immer, abgesprochen wird.
Und oft hat es bei dieser Parteibildung etwas mit bestimmten Personen zu tun, die, ohne es zu wollen, in diese Rolle gedrängt werden.
Im 1. Korintherbrief schreibt Paulus:
Liebe Brüder und Schwestern, im Auftrag unseres Herrn Jesus Christus bitte ich euch eindringlich: Hört auf, euch zu streiten! Duldet keine Spaltungen in der Gemeinde, sondern steht fest zusammen und seid euch einig in dem, was ihr denkt und entscheidet!
Von Leuten aus dem Haus der Chloë habe ich erfahren, dass ihr Streit miteinander habt.
Es soll einige bei euch geben, die sagen: »Wir gehören zu Paulus«, während andere erklären: »Wir halten uns an Apollos!« Die Nächsten meinen: »Nur was Petrus sagt, ist richtig!«, und die letzte Gruppe behauptet schließlich: »Wir gehören allein zu Christus!« (1. Korinther 1,10-12)
Das klingt aus der Ferne betrachtet fast lächerlich. Aber keine Gemeinde, auch die unsere nicht, ist vor solchen Entwicklungen gefeit.
Wo beginnen diese Parteiungen und Spaltungen? Im Herzen von Menschen, die irgendwann nicht mehr bereit sind, zu vergeben. Oder die meinen, über andere richten zu müssen.
Menschen, die - wie wir alle - von Geschwistern verletzt worden sind, aber diese Verletzung nicht zum Kreuz bringen, sondern sich bei jemand anderen über das Fehlverhalten von XY auslassen. Statt zu dieser Person, die sie verletzt hat, hinzugehen und mit ihr „Tacheles“ zu reden ist es natürlich immer einfacher, meinen Unmut mit jemandem zu teilen, der vielleicht die gleiche Erfahrung mit XY gemacht hat. Da ist plötzlich jemand, der mich in meiner Not versteht, dem es mit dieser unmöglichen Person genauso geht wie mir, und schon habe ich einen Verbündeten. Im Kampf gegen wen?
Ist es unsere Aufgabe, gegen einander zu kämpfen?
Sobald das passiert ist ein Keil in der Gemeinde und der Teufel lacht sich ins Fäustchen, weil es ihm wieder einmal gelungen ist, uns von dem abzuhalten, was eigentlich unsere Aufgabe ist: Die Frohe Botschaft zu verkündigen, Menschen in das Reich Gottes hinein zu lieben, die Hölle zu plündern und Gemeinde als Kraft zu sein.
Ertragt einander in Liebe. Das ist kein Widerspruch in sich. Das ist das 1x1 der Liebe heruntergebrochen in unsere ganz normale alltägliche Gemeindesituation hinein. Ich darf lernen, den Bruder X und die Schwester Y mit all seiner/ihrer Unvollkommenheit zu ertragen.
Ich spreche nicht von gutheißen! Auch kein Schwamm darüber, oder herunterschlucken von Verletzungen, oder das tolerieren von sündigem Verhalten. Das wäre auch nicht lieben, sondern das würde zu einer Gleichgültigkeit führen und damit ebenfalls die Beziehungen untereinander zerstören.
Aber ein Aushalten aus einem vergebungsbereiten Herzen heraus. „Ich werde der Person, die mich zum tausendsten Mal verletzt hat, auch beim 1001en Mal vergeben. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass der Friede Gottes, den er über seine Gemeinde ausgegossen hat, bewahrt bleibt.“
Ich muss nicht mit dieser Person auf Urlaub fahren. Ich kann ohnehin nur eine begrenzte Anzahl von engen Freunden haben. Aber ich kann mich entschließen: „Ich werde mein Herz rein halten, ihr nichts nachtragen und ihr in Liebe und Freundlichkeit begegnen.“
Mit dieser Herzenshaltung wird das Zusammenleben in einer biologischen Familie gelingen und erst recht in der Familie Gottes.
Jesus hat zu seinen Jüngern auch einmal gesagt: „Wie lange muss ich euch noch ertragen?“ (Matthäus 17,17) Und ich denke niemand kommt auf die Idee, zu behaupten, dass Jesus seine Jünger nicht geliebt hat.
Gerade die Geschwister in Liebe zu ertragen, die mir Mühe bereiten, führt dazu, dass ich Geduld lerne, dass ich Nachsicht einübe und damit im Glauben wachse. Und somit kann ich von Herzen gerade für die Geschwister dankbar sein (Predigt: Seid dankbar IN allem), die mich Mühe und Überwindung kosten, sie zu lieben. Ich muss nicht für ihre Ausrutscher dankbar sein, aber dafür, dass Gott es mir zutraut, dass ich an ihnen wachse. Und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn diese Herzenshaltung, einander in Liebe zu ertragen, bei dir selber dazu führt, dass dir ausgerechnet diese Person, die dir bisher Mühe gemacht hat, plötzlich sympathisch wird.
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